Am Anfang geht es vor allen Dingen um Aufträge, später um Balance…..
Die Anfangsphase einer Gründung ist für fast jede*n von der Sorge geprägt, dass es nicht klappt. Geht mein Geschäftsmodell auf? Bin ich gut genug? Gibt es Menschen, die haben wollen, was ich anbiete? Und vor allen Dingen genügend viele? Wie lange wird es dauern, bis ich von meiner Selbständigkeit leben kann – bzw. wird mir das überhaupt gelingen?
Eine bange Zeit und mancher hat die eine oder andere schlaflose Nacht. Das Ziel: Genügend Aufträge, genügend Kunden. Die Idee: Dann habe ich es geschafft. Dann ist es leicht. Dann fühlt sich die Selbständigkeit sicher und entspannt an. Dann beginnt eine Zeit der Leichtigkeit.
Stimmt das? Ja. Natürlich. Es ist hoch-befriedigend zu merken, dass die eigene Idee ankommt. Es ist ausgesprochen beruhigend, wenn genügend Geld reinkommt und das Bankkonto im Plus ist. Es gibt einen inneren Teil, der zur Ruhe kommt, weil das Projekt Selbständigkeit gelingt. Bei den meisten.
Doch selten tritt ein, was einst die Idee war: Ruhe, Frieden, Wohlgefühl und Entspannung. Denn was man sich vorher kaum vorstellen konnte, ist die Tatsache, dass es nun neue, ganz andere Herausforderungen zu meistern gilt.
1. Du hast nicht zu wenig, sondern zu viel zu tun
Kein Maß, keine Grenze ist von außen gesetzt. Kein Chef sagt, Du hast jetzt aber genug gearbeitet. Kein definierte Stundenzahl gibt vor, wann Feierabend ist. Du hast hier Ja gesagt und da begeistert zugestimmt und nicht bedacht, dass sich das alles aufsummiert. Noch im Gefühl des alten Mangels warst Du froh über jede Anfrage und jeden Auftrag. Kein Gedanke daran, dass das am Ende ganz schön viel werden könnte…..
Und so rennst Du auf einmal, fragst Dich, ob Du so noch genügend Qualität abliefern kannst… und vor allen Dingen fragst Du Dich, wer Dir das eingebrockt hat…. Du bist doch selbst Chef*in Deines Unternehmens. Du hast das Ruder in der Hand. Wie kann es dann sein, dass Du Dir selbst einen so stressigen Arbeitsplatz kreiert hast?
2. Mit den Aufträgen wächst auch die Arbeit drumherum
Am Anfang ließ sich vieles noch nebenbei erledigen. Eine Rechnung schreiben. Unterlagen abheften. Kleinigkeiten. Nun, wo Dein Auftragsvolumen gewachsen ist, nimmt jeder dieser Vorgänge Raum ein. Du schreibst nicht mehr eine, sondern viele Rechnungen. Du hast Körbe mit Ablage zu bewältigen. Gut organisiert sein wird zur Überlebens-Notwendigkeit. Aber gut organisiert sein braucht Zeit und Aufmerksamkeit, stellst Du fest. Wenn Du es eilig hast, hast Du nicht gleichzeitig Zeit, Dir grundlegende Gedanken über Deine Organisation zu machen. Mit einer ineffektiven Organisation aber dauert alles viel länger als es müßte. Da wächst deutlich ein neues Thema heran, dem Du Dich demnächst stärker widmen musst.
3. Nein sagen ist schwer
Okay – Du könntest Aufträge ablehnen. Du probst Dein Nein. Beim nächsten Anruf sagst Du, Du bist ausgebucht. Kaum hast Du den Hörer aufgelegt, fragst Du Dich, ob Du des Wahnsinns fette Beute bist. Sitzt Du wirklich schon so sicher im Sattel, dass Du es Dir leisten kannst, Aufträge abzulehnen? Es könnten doch auch wieder schlechtere Zeiten kommen. Musst Du nicht mitnehmen, was das Schicksal oder Dein Marketing oder der Markt Dir an Aufträgen beschert? Und schon ist Dein Nein durchlöchert. Du fragst Dich allen Ernstes, ob Du nicht wieder anrufen sollst und sagst, dass Du es doch machst… Nein, diesmal lässt Du das Ganze – mit schlechtem Gefühl – auf sich beruhen. Bei der nächsten Anfrage hörst Du Dich jedoch wieder sagen: Klar, schaffe ich. Gerne!
4. Sollst Du Mitarbeiter*innen einstellen?
Was kannst Du sonst tun? Wachsen könntest Du. Sollst Du Mitarbeiter*innen einstellen? Aufträge fremd vergeben? Da gibt es doch spannende Geschäftsmodelle und einige in Deinem Umfeld werden so größer und größer. Das sind richtige Unternehmer.*innen Die haben wirklichen Geschäftssinn! Statt nur ihre eigene Arbeitskraft zu verkaufen, denken sie in größerem Maßstab. Finanziell bringt es das bestimmt. Aber willst Du das? Wie wird sich Deine Arbeit verändern, wenn Du andere reinholst?
Und hat solch ein Schritt nicht auch Risiken? Werden die Mitarbeiter dann vielleicht mit Deinen Aufträgen abwandern? Hast Du mit Mitarbeitern MEHR oder WENIGER Arbeit? Ganz sicher bist Du Dir da nicht.
5. Du könntest Kooperationen eingehen bzw. Sub-Aufträge vergeben
Bevor Du Aufträge ganz ablehnst, könntest Du Kooperationen eingehen. Dann musst Du keine Leute einstellen und sparst Dir die Arbeitgeber-Pflichten, kannst aber dennoch Aufträge unter-vergeben. Du könntest mit anderen Selbständigen arbeiten, die an dem Punkt sind, an dem Du früher warst – nämlich Aufträge zu brauchen – und die froh sind, wenn was reinkommt. Ein charmantes Modell: Du profitierst von den Anfragen und Deinem guten Ruf, verdienst mit, musst nicht Nein sagen, ohne Dich „tot“ zu arbeiten. Kritischer Punkt: Wen findest Du so gut, dass Du Dich würdig vertreten fühlst? Wer arbeitet in Deinem Sinne? Und auch hier die Frage: Verlierst Du auf Dauer diese Aufträge? Bleibt das Dein Auftrag, wenn Du ihn an jemand anderen vergibst? Du musst gut schauen, wie Du es schaffen kannst, mit im Boot zu bleiben. Andererseits hast Du dann die Möglichkeit, weiter zu wachsen, kannst Kund*innen weiterhin zufrieden stellen, ohne selbst immer mehr zu arbeiten. Ein interessantes Modell…..
Prioritäten setzen
„Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet…“ sagt eine der Interviewten in Bronnie Wares Buch „5 Dinge, die Sterbende bedauern“.
Es geht um Balance. Wenn Du immer weiter Ja sagst, vor lauter Angst, demnächst zu verhungern – ohne neue Modelle zu suchen, wie Du die Arbeit auch bewältigen kannst, kippt die Freude an der Selbständigkeit. Erst füllst Du die Pausen, dann die Abende, dann die Wochenenden. Und am Ende bleibt nur noch Arbeit übrig.
Was hilft, ist die Situation im „Weitwinkel“ zu betrachten. Wie ist das Gesamtbild? Was sind Deine Werte? Wofür hast Du Dich selbständig gemacht?
- Willst Du weiter wachsen? Dann ist jetzt der Zeitpunkt, Dir Entlastung zu schaffen und zusätzliche Arbeitskraft in Dein Unternehmen zu holen.
- Geht es darum, eine bestimmte Art Arbeit selbst und mit Freude auszuüben, geht es darum „aufzuräumen“. Welche Aufträge machen Dich glücklich? Welche Aufträge bringen gutes Geld? Welche möchtest Du machen, welche lieber nicht?
- Welche Ideen und Absichten hast Du ursprünglich mit Deiner Gründung verbunden? Hast Du Deine Ziele erreicht? War die Idee, einige Jahre Gas zu geben – oder gerade weniger zu arbeiten und mehr Lebensqualität in anderen Dingen zu finden? Bist Du noch dran an diesen Zielen?
- Was ist Dir noch wichtig in Deinem Leben – außer Deiner Arbeit? Wofür möchtest Du Zeit haben?
Nötig ist zudem eine – finanzielle – Bestandsaufnahme:
- Wie sicher sind die Aufträge, die Du jetzt hast? Kannst Du es Dir leisten, Aufträge abzulehnen, weil das, was Du hast, langfristig sicher ist? Oder tust Du gut daran, das Neue auch anzunehmen, weil sich darin Chancen auf Zukünftiges verbirgt?
- Welche finanziellen Polster hast Du? Wie sieht Deine finanzielle Situation real aus? Hast Du Rücklagen und Deine Finanz-Ängste sind haus-gemacht und inneren Glaubenssätzen geschuldet? Oder ist die Situation real nicht sooo sicher, so dass Du besser vorsichtig bleibst?
- Welche Weichen möchtest Du stellen? Welche Aufträge möchtest Du zukünftig haben?
Je mehr Überblick Du über Deine Zahlen hast, desto besser kannst Du entscheiden, wo Du wirklich stehst. Dies gibt Dir u.U. die Gelassenheit, Aufträge zukünftig wirklich abzulehnen – schließlich zeigst Du damit auch, wie gefragt Du bist. Du musst also nicht so schnell befürchten, demnächst gar keine Anfragen mehr zu bekommen. So oder so entscheidest Du nicht nur aus dem Bauch heraus – und machst Dir hinterher Vorwürfe. Stattdessen triffst Du eine bewusste Wahl, wie Du mit Deiner Zeit umgehen möchtest.
Ganz spontan gefallen mir gerade zwei Rechtschreibfehler:
Ich denke über „Vorwürde“ nach und über die Aussage „Je mehr Überblick du über meine Zahlen hast . . .“
Liebe Grüße von Elisabeth
Liebe Elisabeth,
Du hast Recht – Vorwürde hat was. Ich habe sie aber trotzdem korrigiert…..
Liebe Astrid,
ein wunderbarer Text, der mir das schlechte Gewissen nimmt, dass ich gerade einen Auftrag abgelehnt habe, weil mir unser bundesweites jährliches Netzwerktreffen zur selben Zeit wichtiger ist.
Nur schade, dass als erster Kommetar in typisch deutscher fehlerfixierter Lern-Un-Kultur ein Rechtschreibfehler genannt wird.
Liebe Eva, danke für Dein Feedback.
Alles gut – ich glaube, Elisabeth hat eher Spaß an meinen ungewollten Wortschöpfungen…
Liebe Astrid,
ein spannender und authentischer Text.
Ich höre heraus, dass nicht nur ich dieses Problem des Nicht-nein-sagen-könnens habe. Das finde ich irgendwie sehr beruhigend! Und wie du es beschreibst, ist es handhabbar.
Liebe Grüße
Jens
Lieber Jens,
Du bist in allerbester Gesellschaft!
Vielen Dank für Dein Feedback
Liebe Grüße
Astrid