Sie sinken in das Hotelbett; es ist angenehm weich. Der Raum ist schön eingerichtet; das Badezimmer ist modern und sauber. Der Blick aus dem Fenster geht ins Grüne. Sie merken sofort: Hier werden Sie sich wohl fühlen.
Ja, so wünschen wir uns das, wenn wir ein Hotel buchen. Aber was machen Sie im Vorhinein, also bevor Sie los fahren, um eine Idee zu bekommen, was das richtige Hotel ist, dass Ihnen dieses Erlebnis bescheren wird? Sie sind ja noch nicht dort gewesen, sondern müssen beim Buchen die Zukunft irgendwie vorhersehen? Woran können Sie ablesen, ob Sie die Qualität erwartet, die Sie sich wünschen?
Wie misst man Qualität?
Qualitätssurrogate nennt Herman Scherer das, was wir suchen – Anzeichen, die es Ihnen ermöglichen die Qualität einer Dienstleistung einzuschätzen, bevor Sie sich persönlich ein Bild machen können:
* Sie können nach Sternen entscheiden – z.B. mindestens 3 Stern oder 4 Sterne… Doch ein Garant sind die Sterne nicht, denn so manches eigentliche eher schäbige Hotel hat den Stern bekommen, weil es noch einen Flachbildschirm und einen Wasserkocher ins Zimmer gestellt hat. Ein 3 Sterne-Hotel kann gemütlich und nett oder schrecklich sein. Natürlich je weiter Sie nach oben gehen, desto sicherer können Sie sich sein, dass Sie wirklich Qualität erwartet und man sich um Sie gut kümmert. Doch je mehr Sterne, desto teurer….
* Der Preis – auch ein Indikator. Wer viel Geld ausgibt, hat natürlich eine größere Chance, ein schönes, qualitativ hochwertiges Hotel zu finden. Wer nur die günstigsten Hotels bucht, kann nicht viel erwarten. Doch was machen Sie, wenn Sie die Mitte suchen – ein mittlerer Preis und mittlere Qualität? Dann hilft Ihnen alleine der Preis als Qualitätsgarant nicht weiter. Zumal in unterschiedlichen Städten und Orten die Preisspanne sehr unterschiedlich sein kann, wie viel Sie für ein Hotel mittlerer Qualität zahlen müssen.
* Die Fotos vom Hotel haben Sie sich vorher genau angeschaut – die Bilder haben Ihnen einen relativ guten Eindruck gegeben von dem, was Sie atmosphärisch erwartet. Und Ihr geschulter Blick weiß, worauf Sie achten müssen. Es ist Ihnen nämlich auch schon mehrfach passiert, dass Sie bei der Anreise feststellen mussten, wie sehr man mit Fotos lügen kann. Etwa was alles nicht auf den Bildern zu sehen war und mit Absicht ausgelassen wurde, z.B. der Ausblick auf die Baustelle direkt nebenan und die entsprechende Lärmbelästigung, die schäbigen Teppiche und der muffige Geruch. Da kann man echte Überraschungen erleben. Im besten Fall bekommen Sie durch Fotos eine Idee, was Sie erwarten wird. Aber wirklich auch nur eine Idee.
* Die Bewertungen der anderen Hotelgäste, die vor Ihnen da waren, helfen, eine Einschätzung zu bekommen. Wenn ein Hotel durch die Bank oder mit sehr krassen Worten negativ belegt wird, dann stimmt vermutlich was nicht. Wenn ein Hotel in den höchsten Tönen gelobt wird, ist es wahrscheinlich auch gut. Aber was machen Sie mit der Mitte, mit den Hotels, über die es positive wie negative Stimmen gibt, wo das eine gelobt, das andere kritisiert wird. Haben Sie wirklich die gleichen Kriterien wie die anderen? Worüber da rumgemeckert wird, ist z.T. erstaunlich. Andere Argumente scheinen Ihnen durchaus nachvollziehbar. Wird der nette Service gelobt oder die Unfreundlichkeit am Empfang moniert? Heißt es, das Hotel war sauber und gepflegt oder wird über Dreck in den Zimmern geschimpft. Wo die Urteile in eine Richtung gehen, finden Sie Orientierung, aber auch nur da können Sie halbwegs sicher sein.
Risiko Dienstleistung
Die ganze Aufzählung zeigt, wenn wir eine Dienstleistung buchen, gehen wir ein Risiko ein. Wir müssen die Katze im Sack kaufen. Im schlimmsten Fall ist das Hotel eine Katastrophe, wir sehen nach dem Friseurbesuch furchtbar aus und der Arztbesuch war knapp, unfreundlich und nicht hilfreich. Das wollen wir uns ersparen. Wir versuchen also durch Bewertungen anderer, durch ein Sterne-/Punkte-System Kriterien zu objektivieren, durch Fotos uns im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild zu machen oder helfen uns mit der Annahme „Gut muss teuer sein“. Bei Hotel-Bewertungen ist uns dieses Wahlverhalten noch recht bewusst, auch bei vielen anderen Kauf-Entscheidungen gehen wir ähnlich vor, ohne dass wir das überhaupt bemerken. Welchen Wein kaufen Sie? Nach Preis, nach Etikett, nach Beschreibung, weil der Verkäufer ihn empfiehlt? Sie sehen – das funktioniert ganz ähnlich.
Angesichts einer Flut von Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen müssen, möchten wir das Risiko für Fehlentscheidungen minimieren. Sehr verständlich.
Dieses Dilemma, in dem wir alle stecken, zeigt gesellschaftlich einige Auswirkungen.
Bewertungen boomen
Ob Sie bei Ebay einen Kauf tätigen oder im Hotel waren. Sie werden anschließend aufgefordert, ihr Kauferlebnis zu bewerten. Denn Ihre Bewertung und damit bestenfalls Empfehlung verhilft zukünftigen Käufern bei Ihrer Entscheidungsfindung.
Wir vertrauen am liebsten auf Empfehlungen und haben damit dem „Empfehlungsmarketing“ zu neuer gesellschaftlicher Beliebtheit verholfen. Vor der Fülle der Auswahl haben wir kapituliert. Wir wollen keine rationalen Bürger am Markt sein, die genau auswerten, welches Produkt die größten Vorteile verspricht. Das ist viel zu anstrengend und kostet viel zu viel Zeit. Stattdessen fragen wir lieber unsere Freunde, Nachbarn oder Kollegen, womit die gute Erfahrungen gemacht haben und vertrauen ihrem Urteil. Dann sind wir die lästige Entscheiderei nämlich auch los. Und nicht auf schlechte Weise. Denn unseren Freunden, Nachbarn oder Kollegen liegt doch hoffentlich unser Wohl am Herzen. Sie müssen ja auch riskieren, dass wir anschließend meckern kommen und sagen: „Wen hast Du mir da letztens empfohlen…..„ Sie werden es sich also reiflich überlegen, was sie uns empfehlen.
Qualitätsmanagement
Die in meinen Augen dramatischste Konsequenz unseres Entscheidungsdilemmas aber ist, dass zunehmend quantitative Maßstäbe in die Qualitätsbewertung Einzug halten. Mit ausgeklügelten Qualitätsmanagementsystemen soll Qualität berechenbar und messbar gemacht werden. Also garantiert. Kunden sollen sich darauf verlassen können – hier wurde Qualität gemessen und geprüft. Hier ist Qualität auch drin. Und da ist ja auch was dran. Wenn sich Unternehmen und Institutionen Gedanken machen, wo gibt es bei uns Qualitätsmängel, sich eigene Standards und Abläufe bewusst machen und Rückmeldungen von Kunden ernst nehmen, ist das wunderbar und trägt mit Sicherheit zu einem Mehr an Qualität bei.
Dramatisch finde ich daran, dass suggeriert wird, dass Qualität wirklich in allen Bereichen messbar gemacht werden kann. Was ich damit meine? Wie würden Sie z.B. die Freundlichkeit Ihres Arztes messen wollen? In der Zahl der Minuten, die er Ihnen widmet? In der Menge an „Hms“, die er äußert, wenn er Ihnen zuhört? In der Anzahl seiner Worte, mit denen er Ihnen erklärt, was Sie haben? Ob Sie besonders viele Rezepte anschließend in der Hand halten? Wie wollen Sie quantitativ erfassen, ob Sie sich gut gehört gefühlt haben, wie sehr Sie sich verstanden gefühlt haben, wie menschlich Sie Ihren Arzt fanden, vielleicht sogar den einen Moment, als Sie dachten, „Mensch, er fühlt gerade richtig mit und es tut ihm leid, dass es mir gerade schlecht geht. Er gibt gerade alles, um heraus zu finden, wie er mir helfen kann.“ Natürlich können Sie versuchen, anschließend Bewertungen einzuholen und Sterne vergeben. Aber ist das alles?
Maßstäbe für Qualität
Nehme ich die Arztpraxis als Beispiel geht es mir wie mit dem Hotel. Natürlich kann ich mich über eine Arztpraxis ärgern, in der ich lange warten muss, weil der Empfang nicht so automatisiert-unternehmerisch abläuft wie die Produktion bei VW. Umgekehrt schätze ich dann aber vielleicht auch, dass man hier „Fünfe gerade sein lässt“, wenn ich gerade mit einem Notfall komme. In der Kinderarztpraxis, in der ich jahrelang mit meinen Kindern war, konnte man z.B. anrufen und die Sprechstundenhilfen am Empfang haben mitdiskutiert, wie schwierig die Situation wohl gerade ist und ob es reicht, Tee zu kochen und zuhause zu pflegen oder ob ich besser kommen soll. Das könnte ich mir in den heutigen durch-organisierten, qualitätsmanagement-geprüften Praxen nicht mehr vorstellen.
Was heißt das für uns als Selbständig und für uns als Kunden?
Nichts gegen Qualitätsmanagement. Aber ich wünsche mir, dass nicht nur noch dem vertraut wird, was messbar ist und gewogen wird – denn das hat z.T. gravierende Konsequenzen, wenn nur noch große Anbieter, die diesen Qualitätsmanagementzirkus organisatorisch bewältigen können, die von der Politik gesetzten Qualitätskriterien scheinbar erfüllen, während die Anbieter um die Ecke, wo Qualität im zwischenmenschlichen Kontakt fühlbar ist, da nicht mithalten können.
Wir müssen eine Qualitäts-Debatte führen
Ich wünsche mir einen differenzierten Qualitätsbegriff und eine Debatte über Qualität, die der Komplexität dessen, was Qualität ist, gerecht wird. Bei allem Wunsch nach qualitativ guten Angeboten, den wir wohl alle haben, erlebe ich seitens der Politik, dass mittlerweile alles gemessen, gewogen und aufgeschrieben werden muss. Die Pflege liefert ein beredtes Beispiel dafür, dass das viele Aufschreiben sogar dazu führen kann, dass die gefühlte und gelebte zwischenmenschliche Qualität abnimmt oder ganz auf der Strecke bleibt.
Ich wünsche mir, dass Selbständige weiterhin ihre Qualität bunt und schillernd deutlich machen, denn dabei machen sie sich notgedrungen Gedanken, welche Art Qualität ihre Kunden wirklich suchen – wie bei den freien Anbietern im nicht-kassenfinanzierten Teil des Gesundheitswesen eindrucksvoll deutlich wird, wo Qualität häufig nicht als Schnelligkeit und Effizienz, sondern als ganzheitlicher, u.U. auch zeitintensiverer Zugang beschrieben wird.
Ich wünsche mir, dass wir die Debatte quantitativ und qualitativ führen und uns bewusst bleiben, dass Qualität nicht immer messbar ist. Wir müssen genau hinschauen. So wie bei der Hotelwahl.
Und wenn Selbständige daneben auch noch lernen, wie man durch veröffentlichte Bewertungen, Sternesysteme, Fotos, Preis und Empfehlungen Kunden von real vorhandener Qualität überzeugen kann – umso besser.